Vor Corona. Allein sein ist nicht einsam

Alleine sein, ohne einsam zu sein. Vor Corona ein wunderbarer Zustand.

Heute könnte ich über Einsamkeit schreiben, diesen wunderbaren schöpferischen Zustand, inmitten murmelnder Menschen zu sitzen, den Gedanken nachzuhängen, sich vorzustellen, wer die Menschen in der Gruppe am Nebentisch wohl sind, dabei sein wollen, ohne dabei sein zu müssen.

Der Stoff, aus dem die Träume und Gedanken gewebt sind, ist auch der Stoff, aus dem wir unser Leben heraus gestalten und formen. Das war vor Corona so. Und das wird und muss nach Corona und mit Corona wieder so sein.

Tauchen wir ein in die Fülle

Stellen Sie sich vor, Sie sind in einem kleinen hübschen, ganz alltäglichen Ort, sagen wir in Südengland, oder an der Nordsee, oder auch in Wien, oder in Spanien. Ja Spanien, Sie sprechen die Sprache nicht, Spanisch aus der Schule, ja, Sie verstehen nicht viel, können sich aber ein Brötchen, Kaffee und einen Wein bestellen.

Kein Touristenort, gerade deshalb liebenswert, das Hotelzimmer ist ein kleines Apartment, Sie waren bereits hier und kennen sich aus, im Hotel erinnert man sich an Sie, wenngleich nur, wenn Sie es erwähnen. Der Zweck der Reise mag eine Nachforschung im Staatsarchiv oder der örtlichen Bibliothek sein. Sie sind für drei, vier Tage angereist, wollen schließlich auch noch ein wenig am Platze sitzen, Menschen beobachten, genießen und sinnieren.

Da stellen Sie fest, die Bibliothek und das Staatsarchiv haben wegen Umbau geschlossen, ihr Internetzugang geht nicht, weil in der Stadt aufgrund von Umbauarbeiten keine Verbindungen bestehen, Sie verstehen es nicht, aber es ist so. Keine Emails, kein Forschen im Netz, keine Archivaufträge.

Plötzlich haben Sie Zeit

Sie sind alleine, keine Kollegen, keine Ehepartner, keine Kinder, keine Verpflichtungen. Sie können machen was Sie wollen. Sie gehen auf den Platz, setzen sich ins Kaffee, bestellen. Die Menschen sitzen in Gruppen um Sie herum, reden und reden, ab und zu verstehen Sie einen Halbsatz, schmunzeln auch mal bei einem Wort, so als würden Sie alles verstehen, man lächelt zu Ihnen hinüber und ist wieder vertieft. Nach dem zweiten Kaffee merken Sie, dass es immer nur ein Wort ist, das Sie verstehen und woraufhin Sie lächeln, als kennten Sie den gesamten Kontext. Drüben in der Gruppe wird eh nicht mehr darauf geachtet.

Sie gehören nicht dazu, trotz des zweimaligen Hinüberlächelns von Ihnen. Dreieinhalb Stunden von vier Tagen sind um. Ein Mann setzt sich an den Nachbartisch, alleine. Auch nach zehn Minuten ist keiner hinzugekommen. Also sitzt er alleine da, wie Sie. Aber er sitzt da einfach, sitzt völlig anders da als Sie. Der schaut nicht.

Der sitzt einfach da.

Raucht eine Zigarette. Nun gut, Sie rauchen nicht, aber selbst wenn, so dasitzen könnten Sie nicht. Was der wohl denkt. Warum der wohl da sitzt. Was denkt man, wenn man einfach so dasitzt? Ist dann nichts im Kopf? Leere gibt es ja scheinbar nicht. Gibt er sich dem Rauch der Zigarette hin? Sie würden ihn gerne ansprechen, kleinen Plausch, nichts besonderes, einfach so einige Worte wechseln. Aber was sagen? Na, wie schmeckt die Zigarette? Das wäre blöd, das wollen Sie auch nicht wissen. Schöner Tag heute, nicht wahr? Oder es tut gut, einfach mal so zu sitzen, nicht? Nein, denken Sie, das geht nicht, so würden Sie auch nicht angesprochen werden wollen,

Also intelligenter, ein wenig Bildung, die haben Sie ja, wir sind im Camus Jahr, Corona liegt noch vor uns, auch wenn wir das noch nicht wissen, aber hier ist Spanien, nicht Frankreich oder Italien. Die Zeitungen sind voll mit Camus's rundem Geburtstag, also wird er es sicher wissen, vielleicht, denken Sie, ist er auch ein Gelehrter, so wie er versonnen vor sich hinschaut könnte es sein, dass er an der Universität arbeitet, sie ist ja nur einige Autominuten entfernt, klar, hierher zum entspannen kommen, mal ohne Studenten einfach den Gedanken nachsinnen, die Vorlesung Revue passiere lassen, über den Beitrag des älteren Semesters nachdenken, Gaststudentin, mit Camus aufgewachsen, ihn während der beruflichen Hochzeit vergessen, nun wieder entdeckt, sitzt da in der Lehrveranstaltung mit leuchtenden Augen, die einzige, die Camus verstanden hat. Er hätte sie gerne noch etwas gefragt, wie sie die Aufforderung zum Leben in der heutigen Zeit interpretieren würde, immerhin, so denken Sie, bei soviel arbeitslosen Jugendlichen, bereits die zweite Generation, die da arbeitslos heranwächst, wie kann wie soll sie die Aufforderung zum Leben trotz aller Widrigkeiten verstehen?

Als hätte er Ihre Frage, Ihren Dialog gespürt, dreht er sich zu Ihnen hin, legt die Münzen auf die Untertasse und tippt mit dem rechten Zeigefinger leicht an seine Mütze, erhebt sich und geht. Wie schwerfällig er sich erhoben hat, denken Sie noch und Ihr Blick bleibt auf seinem Sitz hängen, auf dem der Fremde, der ihnen in Gedanken so vertraut geworden ist, gesessen hat. Eine leichte Vertiefung im Sitzkissen ist geblieben.

Erinnerung und Versprechen zugleich.

Autorin | Dr. Sibylle Deutsch

Dr. Sibylle Deutsch ist Literatur- und Sprachwissenschaftlerin, Linguistin. Sie ist Inhaberin von DEUTSCH.COACH. Als Professional Certified Coach (PCC) begleitet und unterstützt sie Menschen, ihre Möglichkeiten zu erweitern.