Sitz einfach da
Fast alle reden von der Zeitenwende
Seitdem Olaf Scholz von “Zeitenwende” zwei Tage nach dem 24.02.2022 in seiner Rede gesprochen hat, begegnet mir das Wort in vielfältigem Kontext. Webinare bieten “Zeitenwende” für Wirtschaft, Umsatzsteigerung, Klientengewinnung, working less making more money an, andere nutzen das Wort, um endlich die EU von Grund auf neu aufzustellen oder unser Wirtschaftssystem radikal umzugestalten. Ich vermute, dass in einigen Monaten das deutsche Wort “Zeitenwende” im englisch- und französischsprachigen Raum als “zeitenwende” übernommen wird, wie schon “the german angst”.
In Deutschland, wie in vielen westlichen Ländern, ist Nichtstun verschwendete Zeit. Die Kultur der Tat, des raschen schnellen Handelns ist eine Qualität in Deutschland. Wie wir Menschen über aktiv oder inaktiv denken ist Ausdruck unserer kulturellen Prägung und darin eingebunden das Empfinden von Zeit, Zeit-Wahrnehmung, Zeit-Fluss, Zeit-Aktivität. Zeit definiert Ereignis, schlägt sich nieder in der grammatischen Struktur der Sprache und des Sprechdenkens im Kopf. Zeit als Ereignis ist gut und wertvoll und wenn etwas geschieht, geht es voran.
In Zeiten der Krisen muss es tatkräftiger, also rascher im Tun, voran gehen. Seit einigen Jahren ist das profane Wort "liefern" in den Olymp der Anerkennung - oder des Versagens von Anerkennung emporgestiegen. "Er hat geliefert" ist eine der höchsten Auszeichnungen in der deutschen business Kultur. Gleichermaßen ist die Aussage "Er hat nicht geliefert!" der vernichtende Absturz in Unfähigkeit.
Andere Kulturen kennen andere Zeitwahrnehmungen. Manchmal lohnt ein Blick über den Tellerrand. Einfach nur dasitzen ist in anderen Kulturen eine Tätigkeit. Ein Sein ohne Ursache-Wirkungskette von Ereignissen ist in Zeiten hektischer, mörderisch sich überbietender Kriegshandlungen undenkbar. Und sollte gerade deshalb gedacht und in die Zeitenwende als Zeit-Wende einbezogen werden. Unsere westliche abendländische Kultur ist geprägt von Ursache-Wirkungs-Ketten. Das spiegelt sich im Denken, im Handeln und - natürlich - in unserer Sprache.
In meinen Karl May Zeiten, - ich gestehe, ich bevorzugte als Teenager die Bände, in denen Winnetou auftauchte - gab es seitenweise Passagen, in denen Old Shatterhand auf seinem Pferd sitzend durch irgendetwas ritt und sinnierte. Ich fand damals seine Gedanken wenig spannend, denn es geschah nichts. Ziemlich rasch fand ich heraus, dass eine neue Aktion, ein Ereignis, mit einem "plötzlich" am Satzanfang einer neuen Zeile eingeleitet wurde. Ich wurde perfekt darin, die Passagen des Sinnierens nach dem Wort Plötzlich zu durchforsten. Ich wusste damals weder, dass ich mir damit eine Schnellesetechnik, noch die grammatikalischen Grundzüge unserer deutschen Erzähltradition angeeignet hatte.
Jahre später, als ich mich für asiatische Erzählformen in Musik, Film und Literatur interessierte, begann ich zu ahnen, dass Zeit und Raum nicht nur Worte sind, sondern Orte kultureller Ereignishaftigkeit. In der traditionellen asiatischen Erzählstruktur geschieht nach westlichem Maßstab - nichts. Kein "Plötzlich" ließe das Pferd von Old Shatterhand wiehern und Winnetou wachsam durchs Gras robben. Stattdessen weht ein Hauch von Blütenduft ins Zimmer und verweht. Der Vorhang bewegt sich leise, kaum merklich. Nichts geschieht. Auch später nicht. Es gibt keinen Bezug zu Blütenduft und Vorhang. Deutsche Lektorinnen und Lektoren hätten diesen Satz gestrichen, denn was nichts zur storyline beiträgt, also mindestens ein Toter, eine Liebschaft, ein Leichnam, ein Verbrechen, ein Geheimnis oder Mythos, wird gestrichen und fliegt aus dem Skript.
Zeit ist Aktion, Ereignis - das wusste Karl May genau, und damit sind seine Bücher bis heute erfolgreich und bringen Geld.
"Man kann nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen, denn andere Wasser strömen nach..." schrieb der Philosoph Heraklit und setzte offensichtlich Maßstäbe, die in der jahrelangen Debatte über Effizienz und Effektivität durchschimmerten und sich in dem heutigen rein messbaren, Umfrage gesteuerten linear-kausalen Erfolgsdenken der Wirtschaft herauslesen lassen und unsere abendländische westliche Kultur als Zeit gleich Ereignis prägt. Zum richtigen Augenblick am richtigen Ort sein gehört zum Narrativ wirtchaftlichen Erfolges und ist erstrebenswert. Wenn nicht, nun, dann sind "andere Wasser" bereits nachgeströmt, Pech gehabt.
Das Warten auf den richtigen Augenblick ist der traditionellen chinesischen Kultur zugehörig, aber entgegen abendländischer Kausalstruktur bringt in der asiatischen Kultur erst das Warten den richtigen Augenblick hervor.
"In einigen Kulturen wird das Nichtstun als etwas sehr wertvolles betrachtet. Es ist nicht nur eine Unterbrechung der Tätigkeit, sondern eine produktive und kreative Kraft. Die Japaner empfinden eine Hochachtung für das Ma - der Zwischenraum zwischen Gegenständen oder Aktivitäten. Der Zwischenraum zwischen Stuhl und Tisch ist "voll von Nichts". Für sie (Japaner) ist das, was nicht geschieht, oft wichtiger als das, was geschieht (...)." (Levine, München 2011, S.77).
Man möchte gerne diese Art des Wartens auf den richtigen Augenblick unseren Politikerinnen und Politikern in die Handfläche schreiben, als Spickzettel und Richtlinie für ihre Entscheidungen in Krisen und Kriegssituationen. Die produktive Kraft des Nichts-Tun. Nimmt man Hannah Arendts Worte "Denken ist Tätigsein" hinzu, so ergibt sich bereits eine solide Grundlage für das Denken, das dem Handeln vorausgehen sollte.