Wozu noch Empathie?

Paranoid durch remote arbeiten?

Im chat wird nicht auf meine Aussage reagiert. Ups, war sie missverständlich? Falsch? Bin ich unwichtig? Ausgestoßen?
Letzte Woche wurde ich nicht zum online-meeting eingeladen, obwohl es mein Bereich ist. Bin ich nicht zum meeting eingeladen, weil ich vergessen wurde? Weil ich raus bin?

Viele Firmen empfehlen bei online-meetings, die Kamera auszulassen, um Datentraffic zu reduzieren. Die Senderin sendet also in ein schwarzes Universum mit kleinen Bildschirmkacheln, von denen keinerlei bewegte Reaktion kommt. Wie ein Schiffbrüchiger nicht weiß, ob seine SOS Signale empfangen werden, weiß die Senderin nicht, was beim anderen ankommt. Der Sender sendet ohne Bezug in den digitalen Raum. Angst und Unsicherheit sind häufig die Folgen.

Wenn der Status nicht gespiegelt wird

Arbeiten vom Home Office kann Unsicherheit über den eigenen Status verursachen, weil wir weniger Informationen erhalten, weil wir nicht mitbekommen, ob mit anderen gesprochen wird und nur mit uns nicht. Das Fehlen von Gesprächen zwischen Tür und Angel, die fehlenden ad hoc Informationen Hallo-und-hast-du-schon-gehört-das-Projekt-soll-doch-starten lassen uns verunsichern.

Wir werden rasch unsicher über uns selbst, wenn der aufmunternde Blick fehlt, und vor allem, wenn die Präsenz des Kollegen nicht mehr physisch im Raum zu spüren ist. Ja mehr noch, wie Professor Roderick Kramer, Professor für Organisationsverhalten, sagt: “Past research on the topic of organizational and social paranoia shows that working from home may exacerbate uncertainty about status, which can lead to over-processing information and rumination.” (Roderick M. Kramer, zit in NYT, April 30, 2021). Diese Verunsicherung darüber, wie mein Status ist, wo ich stehe, wie ich gesehen werde etc. kann, so Kramer, bewirken, dass Informationen oder nicht Informationen zu Grübeleien und ständiger, übermäßiger Verarbeitung von Informationen - eben paranoides Verhalten - führen.


Wir Menschen sind darauf angewiesen, uns aufeinander zu beziehen. Mit Hilfe der Empathie. Ohne sich aufeinander zu beziehen, ensteht nichts zwischen Menschen. Ohne Empathie ist es ein Gefühl von ausgeliefert sein.
Fehlt das zwischenmenschliche Feedback, werden Menschen unsicher über ihr eigenes Verhalten und ihren Status in der Gruppe und sie geraten leicht in Panik. Etliche Beschäftigte verlieren vor dem Bildschirm bei ihren Präsentationen ins schwarze Nirwana den Bezug zu sich selbst mit der Folge, dass sie nicht mehr einschätzen können, wie laut sie reden, wie schnell, wie lange sie reden, oder ob sie sich gerade um Kopf und Kragen geredet haben.

Was geschieht zwischen Mensch und Maschine?

Zunächst nicht viel. Es sei denn, der Mensch baut eine Beziehung auf. Fast alle kennen wir aus unserer eigenen Kindheit oder bei unseren Kindern das Vermögen, eine innige, ja manchmal total schräg anmutende Beziehung zu Dingen aufzubauen. Zu einem Kuscheltier, einem Kopfkissenbezug, einem Zipfel Stoff, einem Stein - einem Ding. Warum nicht auch zu einer Maschine.

Immer ist es der Mensch, der in den oder das Andere etwas hineinprojiziert. Für Kinder lebt der Stoffzipfel und ist das "Wesen", was sie wirklich wahrhaftig versteht. Das weint, wenn sie weinen, das lacht, wenn sie lachen, das traurig ist, wenn sie traurig sind. Und das am besten trösten kann. Kinder spiegeln sich und ihre Wünsche in das Stoffzipfelchen. Wir Erwachsene spiegeln uns im Anderen. Der Andere lässt eine Saite in einem erklingen, die mich aus meinem Kopfsilo herausholt und mich in das Miteinander eintreten lässt.

"All we care about is whatever is going on between me and another person.", sagt Professor Ken Perlin (Perlin, 2022).

Vorläufiges Fazit: egal wo und wie wir arbeiten, es ist elementar wichtig, mit den eigenen Emotionen nicht alleine gelassen zu werden. Ob das Zwischen-Menschliche im Büro, zu Hause, in der Kneipe, am Krankenbett, vor dem Bildschirm möglich wird, scheint nicht ausschlaggebend zu sein. Hauptsache, es geschieht und Gefühle und Emotionen halten Einzug in das Miteinander.

Oder, wie es Anya Kamenetz in ihrem viel beachteten Buch "The Art of Screen time" formuliert:
"Focus on feelings, not on screens." (Anya Kamenetz, 2020).

Autorin | Dr. Sibylle Deutsch

Dr. Sibylle Deutsch ist Literatur- und Sprachwissenschaftlerin, Linguistin. Dr. Sibylle Deutsch ist Inhaberin von DEUTSCH.COACH. Als Professional Certified Coach (PCC) begleitet und unterstützt sie Menschen, ihre Perspektiven und Möglichkeiten zu erweitern und in Einklang mit sich zu leben und zu handeln.