Hauslehrer TikTok. Verführung

Die Verführung durch TikTok: Ein moderner Rattenfänger?

In der heutigen digitalen Welt gibt es viele Plattformen, die unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, doch keine hat so viel Einfluss auf die Jugend wie TikTok. Diese App, die mit ihren kurzen, unterhaltsamen Videos begeistert, erinnert in ihrer Wirkung an die alte Sage vom Rattenfänger von Hameln. Der Rattenfänger, der mit seiner magischen Flöte die Ratten – und später die Kinder – aus der Stadt lockte, wurde zum Symbol für Verführung und Manipulation.

Die Sage

Wir schreiben das Jahr 1284. Eine Generation Kinder und Jugendlicher zieht es nach Osten. Dort soll es neue Perspektiven für die verlorene Generation der Jugend geben.

Bei den Gebrüder Grimm geht die Sage vom Rattenfänger von Hameln folgendermaßen: Ein mit einem bunt schillernden Gewand bekleideter Mann versprach den Bürgern, sie von Ratten und Mäusen zu befreien. Die Bürgerinnen willigten ein, ihn dafür zu bezahlen und beaufragten den lustigen bunten Kerl. Dieser zog nun eine Flöte hervor und eine eigentümliche, wundersame Melodie ertönte. Die Mäuse und Ratten kamen aus ihren Löchern und folgten der Melodie hinaus aus der Stadt und ertranken im Wasser.

Die Hamelner Bürger waren hocherfreut, von der Rattenplage befreit zu sein. So ganz ohne Ratten, wollten sie vom Fänger nichts mehr wissen und weigerten sich, ihn zu bezahlen.

Doch was geschah, als er nicht für seine Dienste bezahlt wurde? Er wandte sich gegen die Stadt und lockte die Kinder in die Berge – ein eindringliches Bild für die Gefahren, die hinter einer scheinbar harmlos schillernden Fassade lauern.

Der Rattenfänger kehrte zurück am Tag des heiligen Johannes und Paulus, als die Bürgerinnen in der Kirche waren. Holte seine Flöte heraus und spielte, diesmal folgten der wundersamen Melodie alle Kinder ab dem vierten Lebensjahr. 130 Kinder sollen auf diese Weise mit dem Rattenfänger mitgegangen und - wahrscheinlich in einem Berg - verschwunden sein.

Die Verführung einer ganzen Generation.

Der Rattenfänger ist zur Metapher, ja zum Synonym für Manipulation und Verführung der Sinne und des Geistes geworden. Das schillernde bunte Kleid, die betörende Musik - und die Verlassenheit und Perspektivlosigkeit einer jungen Generation, die es wohl damals tatsächich gegeben hat, waren die Zutaten. Und die Kinder folgten ihm willig.

Heute überlassen wir im übertragenen Sinn unsere Kinder dem verführerischen Flötenspiel von TikTok, von KI. Wir geben unsere Kinder und Jugendlichen in die formenden Hände eines einzigen bunten, schillernden Vorbilds: TikTok.

TikTok hat die Fähigkeit, die Nutzerinnen und Nutzer in seinen Bann zu ziehen. Die endlosen Feeds, die bunten Effekte und die eingängigen Melodien sind wie die Melodie der Flöte des Rattenfängers. Die Plattform verspricht Spaß, Kreativität und Gemeinschaft, doch hinter dieser Fassade verbergen sich auch ernsthafte Risiken.

Die ständige Verfügbarkeit von Inhalten kann durchaus zur Sucht werden. Einer Sucht, die das reale Leben der Nutzerinnen und Nutzer in den Hintergrund drängt. Kinder und Jugendliche verbringen Stunden damit, durch die Videos zu scrollen, statt wichtige soziale Interaktionen und Aktivitäten im echten Leben zu er-leben und sinnliche Erfahrungen zu sammeln.

Was früher der Hauslehrer war, ist heute TikTok.

Für die jungen Menschen ist TikTok im Wortsinne ein Vor-Bild. Jeden Tag, jede Stunde, jede Sekunde sehen sie das Vor-Bild, hören es, teilen es mit anderen und bekommen Gleiches geteilt. Sie leben und orientieren sich entlang dieses Vor-Bildes und richten ihr Denken, Urteilen und Handeln daran aus.

Dem modernen Hauslehrer TikTok vertrauen wir unsere Kinder und Jugend an. TikTok ist weder examiniert, noch lassen wir uns Referenzen zeigen, noch gibt es Empfehlungsschreiben berufener Kolleginnen und Kollegen.

Die Hauslehrerinnen und Hauslehrer früherer Generationen waren, je nach Vermögen und Bildungsstand der Eltern, hochgebildete, in der Regel moralisch-ethisch gefestigte Persönlichkeiten, in deren Hände die Kinder gegeben wurden. Auch damals gab es "TikTok"-Verführer und "falsche Hauslehrer". Kinder aus ärmlichen Verhältnissen und Kinder, die keine Ausbildung genossen, wurden oftmals der Straße überlassen oder in Obhut von Verwandten gegeben. Doch die tatenlose, wenn auch ohnmächtig billigende Überantwortung heutiger Generationen an den Rattenfänger TikTok ist beispiellos, weil ohne Not.

Eine rattenfängergleiche Verführung.

Viele von uns sehen das. Die Einen zufrieden ob der guten Anpassung der Jugendlichen an KI. Die Anderen mit Sorge, denn "Wir verlieren unsere Kinder" (Silke Müller).

Ein weiteres besorgniserregendes Element ist der Druck, der durch die ständige Vergleichbarkeit entsteht. Auf TikTok wird ein idealisiertes Bild des Lebens präsentiert, das bei vielen Nutzerinnen und Nutzern, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, zu einem verzerrten Selbstbild führt.

Die Jagd nach Likes und Followern wird zur neuen Währung, und der Maßstab für den Wert eines Menschen ist nicht selten seine Online-Präsenz. Spätestens hier beginnt der gefährliche Kreislauf von Selbstzweifeln und psychischen Problemen. Für viele Nutzerinnen und Nutzer ist das eine leidvolle und mitunter gefährliche Abwärtsspirale.

Die Politik schaut ebenfalls mit Sorge auf das unkontrolliert sich ausbreitende Geschehen, welches sich merkwürdigerweise nicht von selbst an humanistischen, rechtsstaatlichen, moralisch-ethischen noch demokratischen Werten orientiert oder gar tatkräftig für diese eintritt. Würde eine sich Lehrerin oder Lehrer nennende Person so manipulativ und verführerisch unsere Jugend "in den Berg entführen" - was für ein Aufschrei, welche Prozessflut hätte das zur Folge.

"Hauslehrer TikTok" schlüpft weiterhin elegant durch alle Maschen.

Was die Flöte des Rattenfängers, ist der Algorithmus bei TikTok

Die Metapher des Rattenfängers wird noch deutlicher, wenn wir die Rolle der Algorithmen betrachten. Diese sind wie die Flöte des Rattenfängers, die die Kinder immer tiefer in die Welt von TikTok zieht. Sie analysieren das Verhalten der Nutzerinnen und Nutzer und präsentieren ihnen Inhalte, die sie fesseln und dazu bringen, immer weiter zu scrollen. So wird die App zu einem Ort, an dem die Nutzer nicht nur unterhalten werden, sondern auch manipuliert.

Der Rattenfänger zieht mit seiner Musik die Kinder an und führt sie in eine bestimmte Richtung. Ähnlich funktioniert der TikTok-Algorithmus, der Inhalte kuratiert und den Nutzerinnen präsentiert, die sie ansprechen und fesseln. Die „Flöte“ des Algorithmus sind die Daten und Interaktionen der Nutzer – Likes, Kommentare, Shares und die Zeit, die sie mit bestimmten Videos verbringen.

In beiden Fällen gibt es eine ähnliche Manipulation: Der Rattenfänger nutzt seine Musik, um die Kinder zu locken und zu steuern, während der Algorithmus die Vorlieben und Verhaltensweisen der Nutzerinnen analysiert, um sie in eine bestimmte Richtung zu lenken. So wird die Plattform zu einem Sehnsuchtsort, an dem die Nutzer in einer endlosen Schleife von versprochenen Inhalten gefesselt sind und immer mehr konsumieren, ähnlich wie die Kinder, die dem Klang der Flöte des Rattenfängers folgen.

Der Wirkradius wird größer, der Einfluss umfassender und die TikTok-Bildung beginnt, die Gesellschaft zu prägen.

Autorin | Dr. Sibylle Deutsch

Dr. Sibylle Deutsch ist Literatur- und Sprachwissenschaftlerin, Linguistin. Dr. Sibylle Deutsch ist Inhaberin von DEUTSCH.COACH. Als Professional Certified Coach (PCC) begleitet und unterstützt sie Menschen, ihre Perspektiven und Möglichkeiten zu erweitern und in Einklang mit sich zu leben und zu handeln.