Europa, mein Europa

...schrieb Stefan Zweig 1914 an Romain Rolland

Bereits wenige Tage nach dem 24. Februar 2022 veränderte sich die öffentliche Sprache. Rhetorische Aufrüstung hat eine unglaubliche Wirkung auf Körper und Geist.

Innerhalb weniger Tage ist unsere zivilisierte westliche Welt gestürzt. Unsere Werte des 21. Jahrhunderts geben kaum Halt, manchen von uns geben sie gar keine Orientierung mehr, anderen wiederum gibt gerade inmitten des Elends, der Not und Trauer der Glaube an Mitmenschlichkeit und Hilfsbereitschaft noch Halt und Stütze. Europa ist zugleich stark und schwach angesichts des Krieges in der Ukraine.

"Von mir selbst will ich nichts schreiben: ich bin wie verstört von dem Geschehen!", schreibt Stefan Zweig an Romain Rolland angesichts des ersten Weltkrieges 1914.

Stefan Zweig klagt über die Propaganda in französischen Zeitschriften und Zeitungen und schafft in seinen Briefen an Rolland Klarheit, was zerstört, was nicht zerstört ist, was Verleumdung und was Wahrheit ist. Stefan Zweig benennt die Wucht des Lügengespinsts, das den Deutschen wie den Franzosen angedichtet werde, wenn er schreibt: "Und diese Lügen springen mit den Telegrafenfunken rund um die Welt, eine elektrische Atmosphäre von Verleumdung umhaucht die ganze Erde. Wer kann ihnen nach, diesen Lügen? Selbst die Geschichte holt sie nicht mehr ein."


Die Transparenz über das Kriegsgeschehen setzt voraus, dass Pressefreiheit herrscht und unabhängige Journalisten auch in Kriegs- und Krisengebieten recherchieren und von dort berichten können. Wo hingegen unabhängige Medien und Reporter ausgeschlossen werden sind die Informationen nur schwer als wahr oder falsch einzuordnen. Bilder, Videos, Zahlen, Berichte - welche Kriterien lassen einen fake news erkennen? Wir leben in einer Welt des gläsernen Bürgers, in der jede und jeder eigene Daten freiwillig ins Netz stellt und Dienstleistern jeglicher Art Zugriff auf Daten ermöglicht, wir leben in einer Welt des social media, des Datenschutzes, der Digitalisierung, der KI und Cyberkriminalität.

Das alles führt ironischerweise nicht dazu, dass wir volle Transparenz über das Geschehen - und damit auch über das Kriegsgeschehen - haben, sondern zum Teil das Gegenteil eintritt.

Nebelkerzen der Propaganda. Was denken, fühlen, lesen, wissen die Menschen in Russland? Was die russischen Soldaten? Welche schöne heile Welt ist es, in der wir gerade leben bzw. die gerade zerspittert wie Glas?

Die obige Briefstelle lautet vollständig - und zeigt Stefan Zweigs großen Schmerz: "Wer sind wir, Romain Rolland, und wozu sind wir, wenn wir das Wort und die Macht, die uns durch das Wort gegeben ist, jetzt nicht gebrauchen? (...) Wir alle haben zwar gebüßt, dass wir so an die Reife der Menschheit glaubten, ich wie Sie haben doch alle geglaubt, dieser Krieg werde verhindert werden können und nur darum haben wir ihn nicht genug bekämpft, als es noch Zeit war." Stefan Zweig. An Romain Rolland vom 19.10.1914. Stefan Zweig: Briefe an Schriftsteller .

Autorin | Dr. Sibylle Deutsch

Dr. Sibylle Deutsch ist Literatur- und Sprachwissenschaftlerin, Linguistin. Dr. Sibylle Deutsch ist Inhaberin von DEUTSCH.COACH. Als Professional Certified Coach (PCC) begleitet und unterstützt sie Menschen, ihre Perspektiven und Möglichkeiten zu erweitern und in Einklang mit sich zu leben und zu handeln.