Kafkas Linien

Kafkas Zeichnungen, das Äquivalent zur Suche nach dem Ausdruck im Wort

Als Kafkas Zeichnungen in Gänze veröffentlicht wurden, entbrannte die Deutungshoheit unter Forschern und Wissenschaftlerinnen. Gilt uns Kafka nun mehr als Zeichner oder Schriftsteller. Ob die Zeichnungen sein Werk beeinflussten und vorwegnahmen, oder die Schriften und Themen sich in Zeichnungen spiegeln und widerscheinen. Was war erst, Huhn oder Ei? Eine wohl müßige Frage.

Aus künstlerischer Sicht ist es ein osmotisches Fließen, nicht nur im Inhalt, sondern auch in der Form. Die genaue, könnerhafte Zeichnung, das gut ausgeleuchtete und wohlschraffierte Portrait ist die Norm. Ähnlich wie die Norm der wohlgestalteten Sätze, der kausalen Aneinanderreihung von Wort an Wort unter Beachtung grammatikalischer Regeln und literarischer Formgebung.

Und erst dann folgen bewusste Brüche als Suche nach dem Kern, nach Wahrheit, nach eigentlichem Ausdruck. Am Anfang war das Wort. Oder das Zeichen, die Linie? Das Wesen zeigt sich in fließenden Bewegungen, im Schwung der Linie. Dann wirken Strich- und Linienführung wie Musik.

Der Schwung, der Rhythmus ist der Ausdruck. Das, was mit Worten gesucht, ist im Schwung der Linie enthalten. So hängen Zeichnen und Schreiben ganz natürlich zusamen. Das Eine gebiert das Andere.


Kafka vereinfacht Form und Linie immer weiter. Mal in Richtung Verfremdung und ins Absurde gedreht, mal in Richtung harmonischer Linienführung. Viele Zeichnungen verformen sich als Scribbel, zu Strichfiguren, zu Zerrissenheit, bis, vielleicht, das Wesen erfasst ist.

Was bleibt ist die schwungvolle Linie des gallopierenden Pferdes.

Das geneigte Dreieck der Schultern, das Gesicht einschließend, welches vollkommen die Imposanz und Dynamik aufgestützer Schultern Herrschender hinter dem Schreibtisch audzudrücken vermag. Damals wie heute.

Der rennende, sprintende Mensch, entstanden nur in einer aus dem Handgelenk geworfenen Linie aufs Papier.

Picasso hat Dutzende und aber Dutzende Zeichnungen von Stieren gefertigt. Die ersten richten sich nach den Regeln der Kunst und zeichnerischer Richtigkeit. Wohlproportioniert, anatomisch korrekt, gut ausgeleuchtet in Licht und Schatten. Nach absoluter Beherrschung von Form, Figur Anatomie, Ausdruck folgt nach und nach die Reduzierung auf den für Picasso wesentlichen Ausdruck in Form einer schwungvoll fließenden Linie.

Mit ein, zwei Strichen das Wesen, den Kern, die Welt ausdrücken. Im Text brauchts mehr Worte. Kennt man Zeichnungen und Texte von Kafka gleichermaßen, so offenbaren sich seine literarischen Figuren in den zeichnerischen Linien und in den Linien offenbart sich der Kern seiner Texte. Somit ist für mich die Frage, ob er Zeichner oder Schriftsteller war die falsche Frage. Kafka war beides und brauchte beides, um sich auszudrücken und seinen Ausdruck zu finden und zu erkennen.

Wie gut, dass er am 03. Juli 1883 geboren wurde.

Autorin | Dr. Sibylle Deutsch

Dr. Sibylle Deutsch ist Literatur- und Sprachwissenschaftlerin, Linguistin. Dr. Sibylle Deutsch ist Inhaberin von DEUTSCH.COACH. Als Professional Certified Coach (PCC) begleitet und unterstützt sie Menschen, ihre Perspektiven und Möglichkeiten zu erweitern und in Einklang mit sich zu leben und zu handeln.