Kafka, persönlich. Gregor Samsa
"Als Gregor Samsa...
...eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt."
Franz Kafka zum hundersten Todestag, 03. Juni 2024
Wer liest und las "Gregor Samsa" nicht in der Schule? Wir bekamen einen neuen, jungen Deutschlehrer. Es muss in der 10. oder 11. Klasse gewesen sein.
Recht bald nach seinen ersten Stunden bei uns kam er in die Klasse, wir hatten Deutsch in der zweiten Schulstunde, setzte sich mitten unter uns und legte ein Buch auf den Tisch. Schlug es auf. Und las "Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt."
Mehr nicht. Nach diesem Satz blickte er auf, schaute in die Runde, in unsere Gesichter. Erwartungsvoll. Ungefähr die Hälfte der Klasse konnte mit dem Satz aus Kafkas "Die Verwandlung" nichts anfangen, die andere Hälfte war elektrisiert.
Ich war elektrisiert. Da erschafft einer im ersten Satz eine neue Wirklichkeit. Thomas Mann hätte aus diesem Satz einen Roman entwickelt. Für Kafka, das spürte ich, enthielt dieser Satz alles, er war vollkommen. Oder war es für mich?
Das war der Beginn meiner Kafka-Zeit.
Da sucht einer nach Worten. Da lebt einer mit dem Wort. Da existiert das Wort wie das Leben, der Mensch. Leben im Wort. Wie ein Sog zieht es Kafka in die Worte, in die Literatur. Seine zu erschaffende Literatur. Erschaffen durch das Wort. Und verwerfen. Die Worte, sie entzogen sich ihm gleichermaßen, wie sie zu ihm strömten. Er kämpfte mit ihnen und sie mit ihm. Sie bekamen ein Eigenleben, wie Kafka es in seinen Tagebüchern so oft beschrieb. Um sodann wieder zu zerfallen. Leben im Wort. Seine Liebesbriefe an Felice Bauer sind gelebte Liebe im Wort. In der Realität schien Liebe nicht möglich, nicht nur, weil Kafka Angst hatte, sein Schreiben der Liebe und dem Alltagsleben der Ehe zu opfern. Wie soll man etwas sinnlich-körperlich lieben, was doch am besten und willkommensten im Wort erschaffen werden muss.
Die klare, nüchtern-präzise Sprache Kafkas lässt die Absurditäten dessen, was er beschreibt, als ganz normal erscheinen. Kafkas Themen drehen sich ums Scheitern, darum, nicht zu wissen, wo gegen man denn verstoßen hat und wofür man bestraft wird, welches Gesetzt gilt, wo es doch gar kein Gesetz gibt. Kafka bewertet nicht. In seinem kühlen, wertfreien Stil ist alles gleichermaßen Realität.
In "Die Prüfung" arbeiten die Diener im Herrenhaus nicht, sie sind auch mitnichten erpicht auf Arbeit oder zeigen in irgendeiner Weise den Willen dazu. Statt dass der Prüfer ihnen Faulheit und Arbeitsverweigerung vorwirft, sie womöglich bestraft, bescheinigt er ihnen, dass "... Nichtstun und Nichtwissen genau richtig sind."
Sich selbst im Wort erschaffen. Gregor Samsa. Wie wäre das Leben als Gregor Samsa.
Nicht viel hat Kafka zu Lebzeiten zur Veröffentlichung freigegeben. "Die Verwandlung" gehört dazu, und sie hat durchaus damals Aufmerksamkeit gefunden. Sein Kampf mit den Worten, das Ringen, das zu fassen bekommen eines Sinns, der sich doch sogleich wieder verflüchtigt - ist in den Tagebüchern vielfältig nachzulesen, ja, Kafkas sich herumschlagen mit diesem Eigenleben der Worte, dem Sinn und Gegensinn ist förmlich in jedem Tagebucheintrag zu spüren.
In "Beschreibung eines Kampfes", eines sehr frühen, eigentlich fragmentarischen Stücks, ist dieser Kampf ebenfalls nachzulesen, ja ich möchte sagen nachzuempfinden. Zugleich ist diese Lust am Gestalten da. Und Kafkas Texte sind sehr klar und durchscheinend, sind durchdacht und tiefsinnig - um sogleich wieder an die Oberfläche zu steigen und im scheinbar Gegensätzlichen die Gedanken weiter zu treiben, und zugleich mit der Absurdität seines Zeitalters zu spielen.
Kafka lebte in seinen Texten. Das war sein Leben. Die Sprache war sein Leben, sein Kampf, seine Liebe, sein Sein. Und das ist es, was bis heute fasziniert, lesen wir seine Texte. Da lebt einer und steigt auf in seiner eigenen Literatur. Das bleibt nicht ohne Wirkung auf das geschrieben Wort. Zugleich war Kafka mit dieser Verschmelzung von Leben und Wort auch angreifbar, weil er schutzlos in diesen Worten sich selbst darbrachte. Er hatte nichts sonst.
Die Magister- und Doktorarbeiten zu Kafka haben jeden Winkel und jeden Schnipsel erforscht, eingeordnet, klassifiziert und benannt. Gut gemacht. Kafka hätte ChatGPT sofort ausprobiert und weit und immer weiter getrieben, bis zum überbordenden Nonsens, und bis der Algorithmus klar und nackt vor einem liegt. Und er hätte damit gespielt.
Aus den Tagebüchern wissen wir, wie fasziniert Kafka vom Film war und wie häufig er die Kinos besuchte. Die Anfänge des Kinos zeigten viel Slapstick, Absurdität, Überzeichnungen. Der Rhythmus des Vorwärtsdrängens in Kafkas Sprach-Stil ist ähnlich dem Vorwärtsdrängen der Bildsequenzen im frühen Film. So, wie er stets mit dem Wort, den Worten, nicht nur gekämpft, sonder lustvoll gespielt hat. Gestalten, Erschaffen. In den Tagebüchern ringt er mit den Worten und die Worte ringen mit ihm. In seinen Stücken treibt er sie vor sich her, Szene um Szene, in atemberaubenden intellektuellen Höhenflügen, um, so scheint es, gleich hinter der nächsten Ecke ins Bodenlose oder Absurde zu stürzen.
Künstler, Literaten, Philosophen seiner Zeit - er suchte, wenn überhaupt, nach einer ähnlich klaren Sprache. Fand sie bei Kleist, Flaubert, vor allem bei Dostojewski, dessen "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch" bereits die Idee der Verwandlung des Menschen in ein Insekt in sich tragen. Nietzsche übte eine große Faszination aus und beschäftigte, ebenso wie Kirkegaard, seine Gedanken nachhaltig.
Kafkaesk steht für nicht Verstehen absurder, scheinbar unlogischer Zusammenhänge, für fehlende Gerichtetheit, für fehlende logische Stringenz, für Auflösung der Kausalität und Vorhersehbarkeit, für richtig und richtig im Falschen unserer kausal-linearen Tages- und Arbeitswelt. Sein Studium der Psychologie, Freud, Adler war neu und aufregend und revolutionär - und er war fasziniert. Und doch hält er Abstand. Er erkennt rasch, dass psychologisches Verstehen, auf sich angewendet - und wie, wenn nicht auf sich angewendet, sollte und könnte Kafka Psychologie nutzen -, hieße, das eigene Schreiben und Weltverstehen zu zerstören.
Zerstören, nein. Kafkaesk, ja.
Es ist auch ein Halt suchen und Halt geben in einer sich zerstörenden und auflösenden Welt. Damals wie heute.
Gut, dass es Kafka gibt.
Herzlichen Glückwunsch, Franz, zum Geburts-Tag am 03. Juli 1883. Und ein ehrenwertes Gedenken zum hundertsten Todestag am 03. Juni 2024